Patagonisches Scherbengericht zum Jahreswechsel
Ein Geburtstagsfest im nördlichen Patagonien wird zum grossen Scherbengericht. Das erste Geburtstagsfest im neuen Jahrtausend von Clementine Holberg wird laut ihrer eigenen Aussage zu ihrem letzten. Es ist ihr 90. und ihre Familie sowie Freunde sind auf dem Weg zum Tilo-Hof in Quemquemtréu, Argentinien, um mit ihr zu feiern.
Eine äusserst ungleiche Gesellschaft sitzt alsbald unter dem Lindenbaum des Hofes im Sommer Südamerikas und feiert zum Start des dritten Jahrtausends, am 1. Januar 2000 den runden Geburtstag der Jubilarin. Doch die Atmosphäre ist angespannt. Schlummernde Feindseligkeiten überragen die oberflächliche Festlaune. Es ist angerichtet zum grossen Scherbengericht.
Es soll ein grosser Tag werden für die nun 90 jährige Clementine Katharina Holberg, geborene Kohlgruber. Aus Wien wanderte sie mit ihrem zukünftigen Gatten nach Argentinien aus mit dem Wunsch nach einem besseren Leben. Es war die Zeit zwischen den Weltkriegen, in welchem viele Europäer auf der anderen Seite des Atlantiks eine bessere Zukunft sahen.
Man braucht halt sein ganzes Leben, um die Wahrheit zu wissen, dieses endgültige: „Jawohl, das war’s. Damals.“
Die Vergangenheit trifft sich in der Gegenwart
Davon lebt auch das Buch Scherbengericht von Germán Kratochwil. Unter dem Lindenbaum kommen ausgewanderte Europäer und deren Nachfahren zusammen, deren Geschichten sich jedoch in der Hauptsache in der Vergangenheit abspielen. So flieht beispielsweise Gretl, dessen Schwager in einem SS-Lager ums Leben kam, vor den Nazis und trifft an besagtem Geburtstagsfest der Gegenwart auf den ehemaligen Nationalsozialisten Siegmund Rohr. Tragischerweise stammt dieser aus genau dem Dorf, in welchem Gretls Schwager ums Leben kam. War Siegmund gar für dessen Tod verantwortlich?
Gretl ist mit ihrem Ehemann, dem Psychiater Dr. Elias Königsberg, auf dem Tilo-Hof von Treugott und Rotraud anwesend. Auch Rotraud suchte die Freiheit in Argentinien und liess sich aus Deutschland an ihren heutigen Ehemann Treugott vermitteln. Eli, Gretl, Clementine sowie auch Benny und Sarah verbringen jedes Jahr einige Wochen des Sommers gemeinsam auf dem Tilo-Hof in Quemquemtréu im nördlichen Patagonien, rund 1’500 Kilometer südwestlich von Buenos Aires. So auch den sommerlichen Jahreswechsel ins Jahr 2000.
Zerrüttete Verhältnisse auch in der Familie
Ebenfalls unterwegs nach Quemquemtréu ist Clementines Sohn Martin mit dessen Tocher Katha. Nach dem Tod von Martins Frau zerfiel die Familie. Katha wurde gemäss den Worten ihrer Grossmutter in eine „Irrenanstalt“ eingeliefert und ihr Bruder Gabriel verfiel einer Sekte, den Schalern und suchte sein Glück als Paragleiter auch in der Luft. Das Verhältnis zwischen Martin und Gabriel ist jedoch komplett gebrochen. Zu Katha hat er immerhin noch eine Vater-Tochter-Beziehung und mit ihr ist er nun von der Klinik her unterwegs.
„Katha ist fünfundzwanzig. Sie verehrt und liebt mich. Gabriel ist zwei Jahre älter – und verachtet mich.“
Sie müssen jedoch einige Zwischenhalte einlegen. Zuerst will Katha unbedingt mit einem Walflüsterer die Meeresriesen sichten und später müssen sie eine „Gedenkstätte“ der verstorbenen Pinzessin Diana besuchen. Nur leider endet alles in einer kleineren Tragödie. Auch Gabriel kommt zum Geburtstagsfest – wie vom Geburtstagskind gewünscht, spektakulär aus der Luft.
Warten auf den Höhepunkt
Das Fest selbst geht grösstenteils ohne grosses Spektakel über die Bühne. Die Geschichte lebt zu grossen Teilen von den Ereignissen der europäischen Vergangenheit. Doch auch wo offensichtlicher Bezug zur Gegenwart besteht, bleibt die Spannung mehrheitlich aus und es passiert äusserst wenig.
„Na was denn … vorhin ist mein Fest noch so schön gewesen. Dann habt ihr mich alle, einer nach dem anderen, verlassen. Und schliesslich habt ihr ihn fortgeschleppt – in einem Sack, wie die Gilda in Rigoletto.“
Gegen Ende des Geburtstagsessens kommt eine kleine Prise Spannung auf. Als Treugott die geliebte Bleikristallschüssel, ein Familienerbstück, zerbricht, bricht für Rotraud offensichtlich eine Welt zusammen. Kurz darauf kommt sie mit dem schon länger bereit stehenden Rollstuhl für ihren Ehegatten angebraust. Dieser leidet von Geburt weg an einem verkürzten Bein und hat seit einiger Zeit stark mühe mit dem Gehen. Wiederstandslos lässt er sich in sein neues Fortbewegungsmittel setzen. Doch ganz so gut, wie es scheint, verkraftet er dies nicht.
Der Grundstein für den eigentlichen Höhepunkt des Buches ist gelegt. Dieser folgt auch bald, bleibt aber leider eher fad und urplötzlich ist das Buch dann auch zu Ende. Es ist ein Roman, welcher von der Vergangenheit lebt, ohne jedoch in der Gegenwart gross auftrumpfen zu können. So enttäuscht das Ende mehr, als es klärt und ein eher flauer Nachgeschmack bleibt übrig vom grossen Scherbengericht.
Ein Stück Autor im Buch?
Der gebürtige Österreicher Germán Kratochwil wanderte als Kind nach Argentinien aus und lebt heute in Patagonien und Buenos Aires. Er ist promovierter Sozialwissenschaftler und war, ähnlich wie Martin Holberg im Buch, für internationale Organisationen in verschiedenen Städten auf der ganzen Welt tätig. Sein Debütroman, Scherbengericht, erschien 2012 im Picus Verlag, gefolgt von Río Puro (2013) und Territorium (2016).
Patagonien als ein Ziel des Herzens auf der BUCHweltreise
Immer wieder habe ich gesucht nach einem spannenden Buch aus Argentinien. Konkrekt aus Patagonien. Verbrachten wir doch selbst unsere Hochzeitsreise im südlichen Patagonien bis hin zur südlichsten mit dem Auto zugänglichen Stadt der Welt, Ushuaia. Es ist eine unglaublich eindrückliche Landschaft und traumhaft schön zum Reisen.
Das Buch Scherbengericht selbst handelt nun rund 1’500 Kilometer nördlicher als unser damals nördlichster Reisepunkt in El Chaltén. Mal abgesehen von der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires natürlich. Auch wenn mich das Buch insgesamt leicht enttäuschte, war es die Reise – sprich die Seiten – durchaus wert.
Wollt ihr in weitere Länder mitreisen? Dann schaut vorbei in meinem persönlichen LESEreiseBUCH oder bei Yvonne auf umgeBUCHt. Dort findet ihr noch viele weitere tolle Reiseziele weiterer BUCHweltreisender. Wenn euch nun die Reiselust in den Süden Südamerikas gepackt hat, dann klickt einfach weiter in mein Fotoalbum – direkt nach Patagonien. Viel Spass.
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