John Franklin auf Entdeckungsreise der Langsamkeit
Das Leben ist schnell. Für viele zu schnell. Wer mit dem Tempo der Gesellschaft nicht mithalten kann, kann es durchaus schwierig haben. Kann. Muss aber nicht. Es braucht viel mentale Kraft und einen grossen Willen, sich in der schnelllebigen Welt durchzusetzen. Wie John Franklin.
Bereits als Kind beschliesst John, die Schnelligkeit zu erforschen. Und entdeckt dabei die Langsamkeit. Seine Langsamkeit. Doch ist sein Leben tatsächlich von Erfolg gekrönt? Oder geht am Ende auch für ihn alles zu schnell?
Erzählt wird in Die Entdeckung der Langsamkeit die Geschichte des Briten Sir John Franklin aus Spilsby in Lincolnshire. Konteradmiral und Polarforscher in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zu Zeiten, als sich Grossbritannien mit Frankreich im Krieg befand.
Der Autor vermischt gekonnt die wahren Geschehnisse mit Fiktivem. Vieles des frei geschriebenen hat jedoch wiederum einen Bezug zum Autor und dessen Familie. So entsteht eine Mischung aus den Leben von Sir John Franklin und dem Autor Sten Nadolny.
Ich sass also und schrieb an einem Buch, das nicht nur das Leben des geliebten Franklin enthielt, sondern auch, das ahnte ich, mein eigenes.
Und vor allem eines: eine spannende Lebensgeschichte. Unterhaltsam, aber auch zum Nachdenken anregend. Wie ergeht es den Menschen in unserer heutigen Gesellschaft, die dem Tempo des Lebens nicht gewachsen sind? Sowohl im Privaten wie im Beruf. Immer häufiger müssen wir an viele Dinge gleichzeitig denken. Können uns kaum noch auf etwas konzentrieren.
Der Gesellschaft nicht schnell genug
Bereits als Kind und Jugendlicher besteht die Gefahr der Benachteiligung. Wer muss im Sportunterricht am längsten zuwarten, bis er doch noch in die Fussballmanschaft gewählt wird?
John Franklin war schon zehn Jahre alt und noch immer so langsam, dass er keinen Ball fangen konnte. Er hielt für die anderen die Schnur. […] Als Schnurhalter war er geeignet wie kein anderes Kind in Spilsby oder sogar in Lincolnshire.
John Franklin konnte erst gar nicht mit dem Ball spielen. Zu langsam war er, um ihn zu fangen. So hielt er stundenlang für die anderen Kinder von Spilsby in Lincolnshire die Schnur. Den Arm in der Höhe und ohne jegliche Bewegung. Nur seine Gedanken bewegten sich. Aus Sicht seines Vater war er aufgrund seiner Langsamkeit nichts wert. Mit einer harten Linie und Prügel versuchte er, John „zu was brauchbarem“ zu erziehen.
Der Vater meinte, er müsse seinen Jüngsten ordentlich verdreschen, damit er aufwache. Wer nicht kämpfen und sich nicht ernähren konnte, fiel der Gemeinde zur Last, das sah man an Sherards Eltern, und die waren nicht einmal langsam.
Erfolglose Flucht aus der Kindheit
John jedoch sah keine Zukunft in seinem Geburtsort. So flieht er von zu Hause. Zur Küste will er. Auf ein Schiff. Doch er kommt nicht weit. Nur gerade 36 Stunden dauert seine Flucht. Dann wird er von seinem Vater gefunden und mit Gewalt bestraft. Doch John ist entschlossen. Er will die Schnelligkeit studieren und allen zeigen, dass auch er etwas erreichen kann.
Er musste jetzt Schnelligkeit studieren wie andere Menschen die Bibel oder die Spuren des Wildes. Eines Tages würde er schneller sein als alle, die ihm jetzt noch überlegen waren.
In der Schule findet John im Lehrer Dr. Orme einen zukünftigen treuen Weggefährten. Auch wenn er dem anfangs noch nicht bewusst ist. Dank Dr. Orme kann er jedoch schon bald ein erstes Mal auf ein Schiff. Doch John träumt von einer richtigen Seefahrerkarriere.
Das Meer war sein Freund, das spürte er, auch wenn es im Augenblick nicht so gut aussah.
Prägende Seeschlacht vor Kopenhagen
Wider erwarten erlaubt ihm der Vater, nach Ende der Schulzeit, als Midshipman (auch Seekadetten genannt) auf einem Schiff anzuheuern. In Europa herrscht jedoch Krieg. Mit gerade mal 14 Jahren muss John Franklin die Schlacht von Kopenhagen miterleben. John überlebt unverletzt. Äusserlich. Innerlich aber prägt ihn diese Schlacht für sein Leben.
„Du liebst doch das Meer“, begann Dr. Orme wieder. „Das muss nichts mit Krieg zu tun haben.“
John möchte nicht in die Schlacht ziehen, doch es gibt als Seefahrer zu dieser Zeit kaum Alternativen. Mit seinem Onkel Matthew Flinders kann er schliesslich zur Umrundung von Australien aufbrechen. Auf dieser Reise, welche von 1801 bis 1803 andauert, ist auch sein guter Freund Sherard dabei. Dieser bleibt in Australien und es sollen Jahre vergehen, bis sich die beiden unter tragischen Umständen wieder sehen.
Wer langsam war, der konnte viel, aber er brauchte gute Freunde.
1814 wird John in der Schlacht von New Orleans schwer verletzt. Mit einem glatten Durchschuss im Kopf schafft er es mit letzter Kraft an die Küste, wo er auf das Schiff gerettet wird. Die davon stammende Narbe wird in Zukunft für viel Respekt gegenüber John Franklin sorgen.
Dr. Orme sah John verblüfft an, ohne etwas zu sagen. Dann stand er auf und freute sich. „John!“, rief er, und seine Wimpern schienen dem Gehirn Luft zuzufächeln. „Ich habe auf dich gewartet. Aber Hoffnung hatte ich kaum noch.“
Klare Ziele vor Augen
Doch John träumt von der Seefahrt zum Nordpol und 1818 machen sich zwei Schiffe tatsächlich auf ins Eis des Nordens. Sie schaffen es bis zum 82. Breitengrad, können am Ende jedoch froh sein, mit beiden Schiffen wieder heim zu kehren.
John Franklin, Leutnant der königlichen Marine, zur Zeit beschäftigungslos und im Halbsold wie Tausende von Leutnants, wusste als einziger ganz genau, wo er hinwollte. In Gesellschaft behielt er seinen Wunschtraum eher für sich. Aber zu sich selbst sagte er hin und wieder: „Am Nordpol war noch keiner!“
In den Jahren 1819 bis 1822 startet John Franklin mit seiner Mannschaft zur Entdeckung der Norwestpassage im Nordpolarmeer. Dem Seeweg vom Atlantik bis zum Pazifik. Doch die Expedition endet im Desaster. Viele seiner Männer verhungern und nur knapp überleben John Franklin und einige weitere Teilnehmer. Zurück in Grossbritannien gilt die Expedition als gescheitert und John als unfähig, eine solche zu führen. Erst als Franklin einen umfangreichen Bericht der Reise veröffentlicht, kann er sich rehabilitieren und schafft es gar zu gewisser Berühmtheit.
„Der Häuptling war der Meinung, dass Sie mehrere Leben haben, Sir: wegen Ihrer Stirnnarbe und, verzeihen Sie, wegen Ihres – „Reichtum an Zeit“. Und wer unsterblich ist, muss der Chef sein. So dumm sind die Indianer!“ John sah den Dolmetscher düster an.
1825 macht sich John Franklin erneut auf die Suche nach dem ersehnten Seeweg nördlich von Kanada. Doch auch in dieser bis 1827 dauernden Expedition fanden sie die Durchfahrt nicht. 1828 heiratet er schliesslich ein zweites Mal und 1829 folgt der Ritterschlag von König Georg IV.
Im Jahre 1836 wird er schliesslich zum Gouverneur der britischen Kolonie Tasmanien ernannt. Er sorgt für viel Veränderung, jedoch wenig Freude unter den Gutsbesitzern und Adelsleuten. Sechs Jahre später wird er nach London zurück berufen.
„Selbstverständlich leiten Sie die Expedition, Franklin! Erebus und Terror liegen bereit, das Geld ist da, die Nordwestpassage muss endlich gefunden werden. Das wäre ja eine Schande! Was für wichtige Geschäfte sollten Sie davon abhalten?“
Die letzte Reise beschäftigt bis heute
Mit fast 60 Jahren übernimmt er 1845 das Kommando zu einer weiteren Entdeckungsreise ins Nordpolarmeer. Mit den beiden Schiffen HMS Terror und HMS Erebus sowie 129 Mann Besatzung sticht Sir John Franklin am 19. Mai 1845 in See. Er sollte nie mehr zurück kehren.
„Es gibt noch so viel. Wenn die Passage hinter mir liegt, will ich ein wenig Musik lernen.“
Unzählige Schiffe machen sich auf die Suche. Besonders seine zweite Ehefrau Jane finanziert viele Suchfahrten und setzt alles daran, die verschollenen Schiffe mitsamt Besatzung zu finden. Ohne Erfolg.
Das Wichtigste aber blieb aus: noch immer war das Schicksal Franklins und seiner Seeleute im dunkeln.
Wahre Geschichte mit fiktivem Inhalt aus dem Leben gegriffen
In diesem Roman schaffte es der Autor die wahre Geschichte des Entdeckers Sir John Franklin gekonnt mit seiner eigenen Welt zu verbinden. Entstanden ist eine packende Geschichte eines Jungen, der nicht gewillt war, seine Langsamkeit einfach so hin zu nehmen. Er hatte einen unglaublich starken Willen, alles notwendige zu lernen oder gar auswendig auf Abruf zu haben. So konnte er sich Zeit verschaffen. Den nötigen Respekt verschaffte er sich mit seinen Verdiensten. Mit seinem Erreichten. Sir John Franklin erreichte mehr, als manch „schneller Mensch“ für möglich hält.
„Die langsame Arbeit ist die wichtigere. Alle normalen, schnellen Entscheidungen trifft der Erste Offizier.“
Auch heute sollten wir uns für wichtige Entscheidungen Zeit lassen und nicht möglichst schnell handeln. Sondern wohlüberlegt. Dies benötigt jedoch Zeit. Zeit, die sich in den meisten Fällen lohnt, einzusetzen.
„Ich nehme mir Zeit, bevor ich einen Fehler mache“, entgegnete Franklin freundlich.
Schiffe der letzten Reise wurden erst 2014 und 2016 gefunden
Das Buch von Sten Nadolny stammt bereits aus dem Jahre 1983, hat jedoch gerade sehr aktuellen Charakter. Meine Frau war bereits fertig mit Lesen, ich auf den letzten Seiten. Da fällt mir der Name John Franklin in der NZZ am Sonntag vom 18. September 2016 ins Auge. Auf einer ganzen Seite wird von der letzten Expedition von John Franklin berichtet. Ich staune erst einmal. Dann lese ich.
Grund für den Bericht ist die Entdeckung der HMS Terror anfangs September 2016. Nach 170 Jahren wurde das zweite Schiff der Expedition vor der King-William-Insel nördlich von Kanada gefunden. Auch die HMS Erebus wurde erst vor zwei Jahren, 2014, gefunden. Um einiges südlicher wie das nun gefundene Schiff. Die Entdeckung der beiden Schiffe bedeuten wichtige Puzzleteile für die Aufklärung der Reise. Was sich zwischen 1845 und 1848 tatsächlich zutrug im Nordpolarmeer, unweit von Kanadas Festland, werden wir wohl nie mehr erfahren.
John Franklin entdeckt den Schriftsteller in Sten Nadolny
Sten Nadolny wurde 1942 geboren und lebt heute in Berlin und am Chiemsee. Obwohl sowohl Vater wie auch Mutter den Beruf des Schriftstellers ausübten, wollte Sten Nadolny dies keineswegs. Die grosse Begeisterung für den Polarforscher Sir John Franklin war dann jedoch einer der Hauptgründe, dass es anders kam. Die Entdeckung der Langsamkeit ist sein erfolgreichster Roman und gilt heute als moderner Klassiker der deutschsprachigen Literatur.
Die Werke von Sten Nadolny
- Netzkarte (1981)
- Die Entdeckung der Langsamkeit (1983)
- Selim oder Die Gabe der Rede (1990)
- Das Erzählen und die guten Absichten (1990)
- Ein Gott der Frechheit (1994)
- Er oder ich (1999)
- Das Erzählen und die guten Ideen (2001)
- Deutsche Gestalten (2004, gemeinsam mit Hartmut von Hentig)
- Putz- und Flickstunde. Zwei Kalte Krieger erinnern sich (2009, zusammen mit Jens Sparschuh)
- Weitlings Sommerfrische (2012)
Die Entdeckung der Langsamkeit von Sten Nadolny erschien 1983 bei Piper.
Das gesamte Inselgebiet nördlich des kanadischen Festlands heisst heute „District of Franklin“.
Weitere Informationen zum Leben von Sir John Franklin und seinen Reisen findet sich unter anderem auf Wikipedia.
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