Letzter Bus nach Coffeeville: Ein unernstes Buch über ein ernstes Thema
Drei Jugendfreunde leben ihr Leben. Es könnte unterschiedlicher nicht sein. Der Arzt Gene verliert Frau und Kind bei einem Unfall. Danach kehrt er in seine Heimatgemeinde zurück und übernimmt die Praxis seines Vaters. Der zweite im Bunde, Bob, geht in die Army und ist nicht nur in Vietnam als Scharfschütze für die Regierung tätig. Und Nancy, einst die grosse Liebe von Gene. Sie verlässt ihn und wird nie mehr richtig glücklich.
Drei Jugendfreunde starten in hohem Alter noch einmal durch. Mit einem alten, ehemaligen Tourbus der Beatles starten sie ihre letzte gemeinsame Bustour. Von Hershey in Pennsylvania bis nach Coffeeville in Mississippi. Mit an Board der Patensohn von Gene, Jack, sowie der Junge Eric. So unterhaltsam die Geschichte ist – trauriger könnte der Grund der Reise nicht sein.
Letzter Bus nach Coffeeville ist weder Krimi noch Thriller. Es ist ganz einfach eine einfühlsame Geschichte, welche aus dem Leben der fünf Hauptcharakteren erzählt. Gene, Nancy, Bob, Jack und Eric. Das Buch ist äusserst flüssig zu lesen und bietet beste Unterhaltung. Die erzählten Lebensgeschichten sind alles andere als langweilig. Und trotzdem regt das Buch zum Nachdenken an und das traurige Ende müsste einen eigentlich in die entsprechende Stimmung versetzen.
Bob startete den Motor und fuhr vom Parkplatz. Die Reise nach Coffeeville ging los.
Aber nein. Ich war zufrieden. Auch mit dem Ende. Ich habe das Buch mit einem guten und positiven Gefühl beendet. Die Schicksale inbesondere von Gene, auch Doc genannt, Nancy und Bob bereiten einen richtiggehend auf das tragische Ende vor. Bis man selbst damit einverstanden ist.
Ich selbst habe das Buch bei einem Gewinnspiel von Diogenes gewonnen. Ich weiss nicht, ob ich es so im Buchladen gekauft hätte. Aber eines weiss ich jetzt. Ein zweites Buch von J. Paul Henderson würde ich wieder kaufen.
Fünf Lebensgeschichten vereint in einem Bus
Das Buch gibt dem Leser einen Einblick in die unterschiedlichen Leben der fünf Hauptpersonen. Stets im Hinblick auf die bevorstehende Busfahrt, welche ihren Ursprung in der Jugendzeit der drei älteren Freunde hat. Im Versprechen, welches Doc an Nancy dazumals gegeben hat. Bevor sie die Leben der beiden getrennt hat. Aus gutem Grund. Ob verständlich, oder nicht.
Das Versprechen von Doc an Nancy
Eugene und Nancy lernen sich in ihrer Jugend kennen und lieben. Gemeinsam schliessen sie sich der Bürgerrechtsbewegung an und sind auch Teil einer Busfahrt der Freedom Riders. Dies obwohl Nancy die Tochter eines weissen Gutsbesitzers in den Südstaaten ist.
Doc schwieg einen Moment und sah dann Nancy in die Augen. „In Ordnung, ich gebe dir mein Wort. Wenn ich meine, dass die Zeit gekommen ist, werde ich alle entsprechenden Schritte einleiten. Du sollst nicht leiden müssen.“
In ihrer Liebe zueinander nimmt Nancy Doc ein schicksalträchtiges Versprechen ab. Sie fürchtet sich vor nichts mehr, als dass sie im Alter dieselbe Krankheit erleiden wird wie ihre Mutter – Alzheimer. Es ist für sie unvorstellbar, sich an einfach nichts mehr zu erinnern. Sie sieht, wie ihre Mutter und ihr Umfeld darunter leiden und will dies um jeden Preis verhindern. So lässt sie sich von Doc versprechen, dass er, sollte es tatsächlich so weit kommen, der Krankheit ein Ende setzen wird. Der Krankheit und somit dem Leben. Ihrem Leben.
Wenig später verlässt sie Doc. Wie aus heiterem Himmer trennt sie sich von ihm mit einem Brief. Unverständlich für Doc. Erst Jahrzehnte später wird er den Grund erfahren. Erst wenn für die Liebe der beiden nicht mehr viel Zeit bleiben wird. Doch auch die Trennung ist eng verbunden mit der Angst vor der Krankheit. Der Angst vor dem Vergessen. Alzheimer.
In einem Punkt hatte sie jedoch recht. Ihre Worte hatten ihm tatsächlich das Herz gebrochen.
Es sollte fünfundzwanzig Jahre dauern, bevor er sie wirklich verstand.
So ist Doc gezwungen, sein eigenes Leben zu leben. Er heiratet Beth und ist überglücklich bei der Geburt ihrer Tochter Esther. Diese Familienfreude sollte nicht von langer Dauer sein. Bei einem Autounfall kommen Beth und Esther ums Leben. Doc ist erschüttert und zieht zurück in seinen Heimatort, wo er die Praxis seines Vaters übernimmt. So lebt er sein Leben als Arzt. Als Doc.
Bob und seine Stacheldrahtfahne
Der dritte im Bunde ist Bob. Ein Schwarzer. Was nicht unbedeutend ist in der Zeit der Rassendiskriminierungen in den Südstaaten Amerikas. Zu Zeiten von Martin Luther King. Bob ist der Draufgänger der drei Freunde. Er tritt in die Army ein und kämpft in Vietnam. Mit seinen ruhigen Händen und dem klaren Blick mutiert er zum perfekten Scharfschützen. Was im Krieg noch irgendwie vertretbar ist, bleibt auch danach an ihm hängen. Für die Regierung schaltet er fortan „unerwünschte Erdenbewohner“ aus. Morden im Auftrag der Regierung.
An diesem Abend briet Miss Lettie für Bob ein T-Bone-Steak. Er betrachtete es bewundernd, liess es sich schmecken und benannte dann sich selbst danach. Aus Lucius Tribble wurde T-Bone Tribble.
Doch irgendwann hat Bob genug und will aussteigen. Nachdem er die Inhaftierung von ihm und Doc bei einem Zusammentreffen der beiden verschuldet, wird ein Ausstieg für ihn schlichtweg unmöglich. Dank seinem Vorgesetzten Fogerty werden die beiden zwar entlassen, doch Bob ist von nun an in der Schuld von Fogerty. Trotzdem schafft er den Ausstieg, wenn auch auf inoffizielen Wegen.
Er täuscht seinen Tod vor und lebt schlussendlich als T-Bone Tribble in Seattle. Er entwirft mehr zufällig als bewusst ein besonderes Kunstwerk – die Stacheldrahtfahne. Diese soll, ohne den wahren Grund dafür preis zu geben, eine gewisse Berühmtheit erlangen.
Jack und Eric – Docs Patensohn und der Junge, der seine Cousine sucht
Auf Bitten von Doc, ist auch sein Patensohn Jack mit von der Partie. Jack ist ein bekannter Wettermoderator, welcher mit seiner Frau und besonders mit seinem Sohn nie glücklich wurde. Aber auch als Ansager von Sonne und Gewitter im Fernsehen fühlt er sich immer mehr als Clown der Nation. Als er erfährt, dass Conrad nicht sein leiblicher Sohn ist, zieht Jack einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben und fängt neu an.
Der Tag, an dem Jack herausfand, dass Conrad nicht sein Kind war, war deshalb einer der glücklichsten seines Lebens.
Eric ist der Jüngste der Gruppe und fährt nur durch Zufall mit im Bus nach Coffeeville. Nach dem Tod seiner Eltern lebt er bei seinen Pflegeeltern, ehemaligen Freunden seines Vaters. Diese interessieren sich jedoch nicht allzu stark für Eric. So schicken sie ihn auf eine Schule für Gehörlose, obwohl Eric ganz normal hören und sprechen kann. Das reicht ihm. Er haut ab und sucht seine Cousine Susan. Nach dem Besuch seines Onkels Jeff im Gefängnis, trifft er auf dem Weg nach Hershey auf Bob alias Otis, wie er sich Eric gegenüber gerade nennt. Eine glückliche Fügung. So kann er nun im Bus seiner Cousine nachreisen.
Viel Spass auf der letzten Fahrt nach Coffeeville
Nach Jahrzehnten ohne Kontakt meldet sich Nancy bei Doc. Sie freuen sich über das Wiedersehen, aber Nancy erinnert Doc an das Versprechen. Das Versprechen, das bald einmal sehr wichtig werden könnte.
„Ich nehme mal an, du meinst das Versprechen, das du mir damals in Oaklands abgenommen hast?“
„Ja. Ich würde gern wissen, ob du es immer noch halten willst.“
Vor diesem Gespräch hatte sich Doc gefürchtet.
Und so kommt es, dass Nancy aufgrund ihrer Krankheit ins Pflegeheim eingewiesen wird. In die geschlossene Abteilung, damit sie das Heim nicht verlassen und sich verirren kann. Doc schmiedet einen Plan für ihre letzte Reise und holt Bob und Jack mit ins Team. Gemeinsam entführen sie Nancy aus dem Pflegeheim in Hershey, Pennsylvania. Und dann geht sie los – ihre letzte gemeinsame Fahrt nach Coffeeville.
Doc kam ungern, aber endgültig zu dem Schluss, dass es an der Zeit war für ihre Reise nach Coffeeville.
Die Gruppe könnte unterschiedlicher nicht sein. Da ist Doc, der Kopf der Gruppe. Bob, der Fahrer des Buses. Nancy, welche selbst nicht weiss, weshalb sie diese Busfahrt unternehmen. Jack, welcher sich um Eric kümmert, welcher sich nichts sehnlicher wünscht, als seine Cousine Susan zu finden.
Sie fahren nicht einfach schnellstmöglich nach Coffeeville. Es soll nicht nur ihre letzte Fahrt sein. Es sollen vielmehr ihre letzten gemeinsamen Ferien sein. Sie wollen die Tage geniessen und zusammen viel Spass haben. Und genau das überträgt sich auf den Leser. Es macht Spass, mit den fünf Freunden im Bus unterwegs zu sein.
Am Ziel der Reise – und des Lebens
Kurz vor dem Ziel scheint die Reise jedoch vorzeitig zu Ende. In einer Raststätte trifft die Gruppe auf den ungeliebten Bruder von Nancy. Ein äusserst unglücklicher Zufall, haben sie Nancy doch aus dem Pflegeheim entführt. Aber auch hier finden die Begleiter von Nancy eine Lösung, auch wenn diese etwas unsanft ausfällt. Zumindest für ihren Bruder Brandon.
„Du hättest wirklich Gangster werden sollen“, lachte Bob. „Dein Talent war als Medizinmann völlig verschwendet!“
Nun hält die fünf rein gar nichts mehr ab, Coffeeville zu erreichen. Im alten Waldhaus der Familie Nancys nisten sie sich ein und geniessen einige Tage voller Zufriedenheit. Zufrieden, noch einige Tage gemeinsam zu verbringen. Der letzte Höhepunkt bildet die Halloweenparty, welche sie in „ihrem“ Haus austragen.
„Eine der besten Partys, zu denen ich mich je selbst eingeladen hab. Das war echt toll gestern. Fandst du nicht auch?“
Es wird die letzte Party sein von Doc und Nancy. Nach dem Abschied von Bob, Jack und Eric ist die Zeit gekommen. Die Zeit, ein Versprechen einzulösen.
Ein Buch zum Schmunzeln und Nachdenken
Das Buch könnte nicht besser zu querdurchdenalltag.com passen. Mein Ziel ist es, die Leser zum Schmunzeln und Nachdenken anzuregen. Genau das erreicht J. Paul Henderson in seinem Roman Letzter Bus nach Coffeeville. In der Hauptsache beschäftigt sich das Buch mit der Krankheit des Vergessens. Mit Alzheimer. Es zeigt auf, wie schwierig es für Betroffene, aber auch für Angehörige werden kann.
Es war vierzig Jahre her, dass der alte Mann zuletzt geweint hatte, und er merkte es erst, als er die Tränen auf seinen Wangen fühlte. Für einen kurzen Moment war er glücklich.
Das Buch zeigt aber auch viele weitere Facetten des Lebens der letzten Jahrzehnte. Voran die Rassendiskrimierung in den USA, welche auch heute noch nicht überstanden ist. Natürlich waren die Zustände in den 1960er und 1970er Jahre noch einiges schlimmer, speziell in den Südstaaten. Aber gelöst ist das Problem bei weitem noch nicht. Das wird wohl noch weitere Generationen brauchen.
Aber auch die kriegerischen Tätigkeiten der USA werden zum Thema. Bobs geheimes Scharfschützendasein für die Regierung zeigt uns, wie die Regierungen auch heute noch im Geheimen operieren. Und mit Eric kommt ein Junge ins Spiel, welcher seine Eltern bei einem Unfall verliert und danach von seinen Pflegeeltern mehr schlecht als recht erzogen wird.
„Wir haben’s geschafft, mein Mädchen. Wir haben’s endlich geschafft.“ Mit einem sanften Kuss auf den Mund verabschiedete er sich endgültig von ihr.
Am Ende zeigen uns all die Tragiken des Lebens aber vor allem, wie man trotz allem auch noch Spass haben kann. So schwierig es ist, manchmal muss man sich einfach dazu zwingen, das Leben etwas mehr zu geniessen.
Der Autor und sein erstes Werk
Der Schriftsteller J. Paul Henderson stammt aus Nordengland und wurde 1948 in Bradford, Yorkshire geboren. Er studierte Amerikanistik und arbeitete nach diversen Gelegenheitsjobs – unter anderem als Busfahrer – als Vertriebschef für den New Yorker Sachbuchverlag Wiley-Blackwell. Inzwischen lebt er wieder in Bradford.
Seinem Debütroman Letzter Bus nach Coffeeville (im Original Last Bus to Coffeeville) gehen eigene traurige Erfahrungen mit der Krankheit Alzheimer voran. Henderson kam mit der Krankheit in Berührung als seine Mutter diese bekam. Als diese verstarb, verarbeitete er das Thema im vorliegenden Roman. Er schaffte es, das ernste Thema Alzheimer auf eine unernste Art und Weise wiederzugeben.
Bob, Doc und Nancy standen nebeneinander wie ein altmodisches Musiktrio – drei alte Freunde, die, nach Jahrzehnten endlich wieder vereint, sich bald für immer voneinander verabschieden würden.
J. Paul Henderson: Der letzte Bus nach Coffeeville. Diogenes, 2016.
J. Paul Henderson: Last Bus to Coffeeville. No Exit Press, 2014.
BUCHweltreise – auf Busreise in den USA
Mit diesem Buch befinde ich mich auf meiner BUCHweltreise zurzeit in den USA. Auf der Busreise von Hershey über Walton’s Mountain, Nashville und Memphis bis nach Coffeeville.
Hat dir dieser Beitrag gefallen und du möchtest mehr davon? Dann melde dich jetzt an für meine E-Mail-Benachrichtigung. Einfach Name und E-Mail eintragen und auf Anmelden klicken. Und schon erhälst du ein Mail, wenn hier was neues bereit steht. Herzlichen Dank – ich freue mich.