Das Leben von Shin Dong-hyuk – vor und nach seiner Flucht aus Lager 14
Es ist eines der aufwühlendsten Bücher, die ich je gelesen habe. Es ist die Lebensgeschichte von Shin Dong-hyuk. Geboren in einem offiziell nicht existierenden Straflager Nordkoreas, gelingt ihm mit 23 Jahren die Flucht über China nach Südkorea und später in die USA. Bis heute ist es die einzige bekannte Flucht eines in einem Lager geborenen Nordkoreaners.
Die Geschichte gibt einen schockierenden Einblick in das Leben im Lager 14 und die allgemeinen Zustände in Nordkorea. Der Leser erlebt die Flucht durch den Hochspannungszaun, die weiten und harten Wege durch China und wie Shin mit viel Glück der endgültige Sprung in die Freiheit nach Südkorea schafft. Das Buch zeigt aber auch, wie schwierig es für Shin war und wohl für immer sein wird, im Leben ausserhalb des nordkoreanischen Straflagers Fuss zu fassen.
Eine bewegende und unglaublich fesselnde Geschichte – doch nichts für schwache Nerven. Der Gedanke, dass noch heute viele tausend Nordkoreaner auf ähnliche Art und Weise gepeinigt werden, macht das Lesen umso schockierender. Flucht aus Lager 14 ist eine Empfehlung für alle, welche die brutale Wahrheit der heutigen Zeit nicht scheuen.
Am 2. Januar 2005 gelang Shin Dong-hyuk die Flucht aus einem der am stärksten bewachten Straflager Nordkoreas. Nach 23 Jahren Haft betrat er zum ersten Mal in seinem Leben den Boden ausserhalb des Hochspannungszaunes, den das Lager umgibt. Einen Monat später ist er in China, nach zwei Jahren in Südkorea und vier Jahre danach lebt er in Südkalifornien. Ein normales Leben, wie wir es kennen, wird Shin wohl nie führen können. Zu stark sind die Erziehungsmethoden, die Unterdrückung und die harte Arbeit im Lager 14 in seinem Innersten verankert.
Jede Mahlzeit war dieselbe: Maisbrei, eingelegter Kohl und Kohlsuppe. Shin ass dieses Mahl 23 Jahre lang fast jeden Tag, ausgenommen an den Tagen, an denen er zur Strafe nichts zu essen bekam.
Nordkorea – eine unbekannte Welt der Unterdrückung
Shin Dong-hyuk kam im Straflager zur Welt und bekam von seinem Heimatland, Nordkorea, kaum etwas mit – und schon gar nicht vom Rest der Welt. Shin ist ungefähr gleich alt wie der aktuelle Führer der Demokratischen Volksrepullik Korea, wie der Staat offiziell heisst. Gegründet wurde Nordkorea 1948 durch den grossen Führer Genosse Kim Il-sung, welcher als Ewiger Präsident über seinen Tod hinaus als Staatschef Nordkoreas gilt. Nach seinem Tod 1994 übernahm sein Sohn Kim Jong-il bis zu seinem Tod 2011 die Staatsführung. Seither herrscht dessen Sohn und Enkel des Gründers, Kim Jong-un über Nordkorea und das mehrheitlich verarmte Volk.
Die Kim-Dynastie von Nordkorea | Kim Il-sung | Kim Jong-il | Kim Jong-un |
Die koreanische Halbinsel wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in zwei Besatzungszonen aufgeteilt. Der Süden wurde durch die amerikanischen Truppen beherrscht, der Norden durch die sowjetischen. Analog, wie dies in Deutschland mit dem Westen und dem Osten geschah. Im Gegensatz zur Deutschen Demokratischen Republik (DDR) blieb die Demokratische Volksrepublik Korea jedoch bis heute bestehen und gilt zurzeit als das weltweit restriktivste politische System überhaupt. In den Jahren 1950 bis 1953 wütete der Koreakrieg, dessen Kriegszustand auch heute noch aktuell ist. Zwischen dem Norden und Süden herrscht offiziell lediglich ein Waffenstillstand. Was die jüngsten Entwicklungen, wie ein mögliches bevorstehendes Treffen zwischen dem US-Präsidenten Donald Trump und dem nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un bringen wird, lässt sich noch nicht sagen. Die Beziehungen sind und bleiben angespannt.
Herrkunft entscheidet alleine über Zukunft
Die Bevölkerung von Nordkorea wird von der Regierung in drei Kategorien eingeteilt. Alleine die soziale Herkunft entscheidet über die Zuteilung und ein Aufstieg in eine bessere Stufe ist kaum bis überhaupt nicht möglich. Nur die Angehörigen der bestgestellten Gruppe haben Zugang zu Bildung und ausreichend Gütern wie etwa Lebensmitteln. Diese erste Gruppe zählt die Genossen und der Regierung treuen und loyalen Personen. Die dritte und unterste Kategorie sind die der Regierung feindlich gesinnten Personen, welcher schätzungsweise ein Viertel der Bevölkerung angehört. Es reicht aus, wenn ein entfernt blutsverwandter die Regierung gegen sich aufbringt, beispielsweise durch einen Fluchtversuch. Die mittlere Gruppe besteht aus den sogenannt schwankenden Personen.
Shin war bewusst geworden, dass es Dinge gab, die er niemals sehen und niemals essen würde. Der Schmutz, der Gestank, die Düsternis und die Freudlosigkeit des Lagers bedrückten ihn. Als er begann, in Ansätzen so etwas wie Selbstbewusstsein zu entwickeln, entdeckte er Einsamkeit, Trauer und Sehnsucht.
Shin Dong-hyuk gehört von Geburt an der tiefsten Bevölkerungsschicht an. Nach der Flucht seines Onkels wurden dessen Angehörige in Arbeitslager verschleppt, wo sie bis zu ihrem Tode harter Arbeit nachgehen müssen. Shin wurde im Lager geboren, nachdem seine Eltern durch eine arrangierte Ehe belohnt wurden. Was ausserhalb des Lager geschah, bekam Shin nie mit. Liebe empfand er ebenfalls keine, weder von seinen Eltern, seinem älteren Bruder noch von anderen Mithäftlingen. Überhaupt herrschte im Lager 14 eine Atmosphäre von Unterdrückung durch die Wärter und gegenseitigem Ausspionieren und Verrat. Man war vor niemandem sicher. So hat Shin im Alter von 14 Jahren selbst die eigene Mutter und den Bruder verraten, als diese die Flucht aus dem Lager planten.
Den Kindern im Lager konnte man grundsätzlich nicht trauen, und sie misshandelten sich gegenseitig. Bevor man ihm überhaupt etwas beibrachte, lernte Shin zu überleben, indem er alle anderen denunzierte.
Da der Wärter, dem Shin die bevorstehende Flucht meldete, die Aufdeckung für sich beanspruchte, wurde Shin in der Folge über mehrere Monate gefoltert. Als die Wahrheit über die Meldung ans Licht kam, wurde Shin wieder freigelassen, doch wurde er im Anschluss von seinem Lehrer aufs gröbste schlecht behandelt, zu harter Arbeit gezwungen und von den Mitschülern misshandelt. Shin war dem Hungertod nahe und seine Wunden aus der Zeit der Folter konnten nicht verheilen. Die Hinrichtung von Mutter und Bruder aufgrund des Fluchtversuches musste er ebenfalls aus nächster Nähe beobachten, was ihn jedoch in diesem Moment kaum beschäftigte. Er war ein 14-jähriger Junge ohne jegliche Rechte und menschlichen Gefühle.
Der Traum nach gebratenem Fleisch
Das Leben im Lager 14 war hart und trotzdem dachte Shin weder an Selbstmord noch an Flucht. Wohin auch, hatte Shin ja keine Ahnung von einem Leben ausserhalb des Straflagers. Das einzige, was zählte, waren die zehn Gesetze des Lagers. Die Lage besserte sich für Shin ein wenig, als von einem Tag auf den anderen ein neuer Lehrer vor Shins Klasse stand. Ihren alten Lehrer sahen sie nie wieder. Seine Wunden verheilten und er kam wieder zu Kräften. Nach Abschluss der Schulzeit wurden alle Kinder zu einer Arbeit auf Lebenszeit eingeteilt. Die meisten Knaben mussten bis zu ihrem Tod in den Kohlegruben schuften. Shin hatte grosses Glück und wurde auf dem Viehhof eingeteilt. Nirgendwo sonst gab es soviel essbares zum Stehlen.
Die zehn Gesetze von Lager 14
- Versuche nicht zu fliehen.
- Es dürfen niemals mehr als zwei Häftlinge beieinanderstehen.
- Du sollst nicht stehlen.
- Den Wärtern ist bedingungslos zu gehorchen.
- Wer eine flüchtende oder verdächtige Gestalt sieht, ist verpflichtet, sie umgehend anzuzeigen.
- Die Häftlinge müssen sich gegenseitig beobachten und jedes verdächtige Verhalten unverzüglich anzeigen.
- Die Häftlinge müssen mehr tun, als die täglich zugeteilte Arbeit zu verrichten.
- Ausserhalb des Arbeitsplatzes ist eine Mischung der Geschlechter aus persönlichen Gründen nicht erlaubt.
- Die Häftlinge müssen ihre Fehler aufrichtig bereuen.
- Häftlinge, die die Gesetze und Regeln des Lagers verletzen, werden unverzüglich erschossen.
Die Wärter zogen Shin aus, fesselten seine Hand- und Fussgelenke und hängten ihn an einen Haken an der Decke. Anschliessend machten sie unter ihm ein Feuer und liessen ihn langsam von der Decke herab. Als seine Haut Blasen warf, fiel er in Ohnmacht.
Später wurde Shin in die Textilfabrik des Lagers umgeteilt, wo er dafür sorgen musste, dass eine Gruppe von Näherinnen stets ihr Arbeitsziel erreichten und die Nähmaschinen funktionierten. Als ihm eines Tages eine Nähmaschine aus der Hand fiel, wurde ihm zur Strafe kurzerhand ein Finger abgehackt. In der Textilfabrik lernte er Park Yong Chul kennen. Er kam als neuer Häftling und Shin erhielt die Aufgabe, ihm alles notwendige über die Arbeit beizubringen. Park Yong Chul kannte im Gegensatz zu Shin die Welt ausserhalb Nordkoreas und so gedieh in Shins Kopf immer mehr der Wunsch, zu fliehen. Besonders reizte ihn Parks Erzählungen von gebratenem Fleisch, kannte er doch bisher kaum was anderes als Mais und Kohl.
Die lange Flucht in ein neues Leben
Unter Todesgefahr schmiedeten die beiden von nun an Fluchtpläne. Shin sollte sie aus dem Lager bringen, Park anschliessend durch China und weiter nach Südkorea. Am 2. Januar 2005 war es schliesslich soweit. Die Arbeiter der Textilfabrik wurden zum Feuerholz sammeln in die Nähe der Lagergrenze geführt. Shin und Park wussten, dass eine solche Gelegenheit nicht bald wieder eintreffen würde. Also nutzten sie sie. Shin sollte zuerst durch den Hochspannungszaun kriechen, Park danach. Doch aufgrund eines Stolperers von Shin war Park zuerst am Zaun – was Shin das Leben retten und die Flucht ermöglichen sollte. Kaum dass Park durch den Zaun kroch, berührte er die Drähte und lag bald leblos am Boden. Nun war die Öffnung grösser und Shin nutzte den leblosen Körper seines Freundes als Isoliermatte, um in die Freiheit zu kriechen.
Park, der tot im Zaun lag, hatte ihm nicht gesagt, wie er den Weg nach China finden konnte.
Frei war Shin aber noch lange nicht. Er befand sich nachwievor in Nordkorea und war nun auf sich alleine gestellt. Meistens hatte er überhaupt keine Ahnung, in welche Richtung er Gehen soll, um an die chinesische Grenze zu gelangen. Nach wenigen Wochen überquerte er diese Grenze durch den Fluss Tumen im Norden des Landes. Vier hungernde Wachsoldaten musste er zuvor bestechen und der letzte Soldat sah ihm gar zu, wie er durch den Fluss nach China floh. Selbst in China war Shin noch nicht sicher und die Reise in die endgültige Freiheit solte noch lange werden. Nach rund zwei Jahren hatte Shin erneut grosses Glück, als er auf Arbeitssuche in einem Restaurant in Shanghai auf einen Journalisten traf, welcher ihn in der Folge auf das südkoreaniche Konsulat brachte. Nach dieser gefährlichen Aktion war Shin Dong-hyuk das erste Mal überhaupt in seinem Leben frei und in Sicherheit.
Frei – aber in den Erinnerungen gefangen
Aber war beziehungsweise ist Shin Dong-hyuk wirklich frei? Kann er jemals frei sein von seinen Erinnerungen an 23 Jahre Haft und Folter im nordkoreanischen Straflager 14 sowie zwei Jahre Flucht durch Nordkorea und China bis zu seiner Ankunft in Südkorea? Wird Shin jemals ein normales Leben führen können? Ein Leben, das wir im industrialisierten Europa als normal betrachten? Ich bezweifle das sehr. Erfahrungen, welche Shin sie in seinen ersten 23 Lebensjahren gemacht hat, kann man nicht einfach abhaken und vergessen. Sie bleiben und treten immer wieder hervor. Doch man kann lernen, mit ihnen umzugehen und zu leben.
Er hatte 23 Jahre in einem Freiluftkäfig verbracht, in dem Männer mit Willkür, Folter, Morden, Hinrichtungen und der Pflicht zur Denunziation über die Gefangenen herrschten.
Noch in Südkorea hat sich Shin vorgenommen, für die Menschenrechte zu kämpfen und die Welt über die Existenz der Straflager in Nordkorea zu informieren. Lager, welche nach offiziellen Angaben bis heute nicht existieren. Lager, in denen Menschen schlechter behandelt werden, als die Tiere, dessen Fleisch wir beim Detailhändler kaufen. Lager, in einem Land, welches sich erfolgreich seit 70 Jahren vom Rest der Welt abschottet und die eigene Bevölkerung mit Unterdrückung, Drohungen und Angst sowie einer riesigen Armee unter Kontrolle hält. Wie lange kann das noch gut gehen? Wie lange darf man eine solche Regierung noch walten lassen?
BUCHweltreise in ein Land ohne Weltanschluss
Nordkorea ist kein reales Reiseziel für mich und doch hat mich mein Weg auf der BUCHweltreise in dieses Land geführt. Eine Reise, welche mich gleichermassen fasziniert wie schockiert hat. Alle wissen wir in groben Zügen um die Zustände von Nordkorea – doch die Geschichte von Shin Dong-hyuk übertrifft meine schlimmsten Vorstellungen. Betrachtet man zudem den Wahrheitsgehalt und die aktuellen Jahreszahlen der Geschehnisse, bleibt einem einfach nur noch der Atem stocken.
Flucht aus Lager 14 ist die Geschichte des Shin Dong-hyuk und entstand über zwei Jahre und vielen Interviews mit Shin und dem amerikanischen Journalist und Schriftsteller Blaine Harden. Den Wahrheitsgehalt von Shins Erzählungen kann man nicht vollumfänglich prüfen. So gibt er 2015 selbst zu, gegenüber Harden falsche Angaben, insbesondere zu Zeiten und Orten, gemacht zu haben. Ob das ein gewisser Selbstschutz war? Keine Ahnung. Die Geschichte von Shin wäre wohl auch in voller Wahrheit eine äusserst schockierende. Doch auch wenn einige Angaben in Flucht aus Lager 14 nicht vollumfänglich so stattgefunden haben, wie geschildert, ist die Geschichte zu einem grossen Teil trotzdem so geschehen. Und geschieht wohl auch heute noch in den Straflagern von Nordkorea.
„Ich kannte weder Sympathie noch Traurigkeit“, sagte er. „Sie erzogen uns von Geburt an so, dass wir zu normalen menschlichen Gefühlen nicht imstande waren. Jetzt, da ich draussen bin, lerne ich, Gefühle zu haben. Ich habe zu weinen gelernt. Ich habe das Gefühl, langsam menschlich zu werden.“
Blaine Harden (Quelle: Twitter) | Shin Dong-hyuk (Quelle: Wikipedia) |
Shin Dong-hyuk lebt heute wieder in Seoul, nachdem er einige Jahr in Torrance (Los Angeles, Kalifornien) sowie Sammamish (Seattle, Washington) verbrachte. Der Autor Blaine Harden lebt in Seattle im nordöstlichen US-Bundesstaat Washington.
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